Zweiter von drei Teilen einer Reihe über die Kirche in aller Welt.
Ein guter Mormone muss auch ein guter Staatsbürger sein
Kann ein Heiliger der Letzten Tage in der Gesellschaft, in der er lebt, seine Aufgaben erfüllen und dennoch seinem Glauben treu bleiben? So mancher wird diese Frage schon im Ansatz anzweifeln. Wieso muss zwischen Kirche und Staat überhaupt ein Spannungsverhältnis bestehen? Beides geht doch Hand in Hand und schließt sich nicht aus. Die geistige Ebene ist gewiss eine andere als die rechtliche. Am besten wirken die beiden jedoch zusammen, wenn die Gewissensfreiheit und das Gemeinwohl einander Raum geben.
Dem Kaiser steht zu, was des Kaisers ist, aber das gilt auch für die Stimme der Seele.1
Den Mitgliedern der Kirche ist diese Wechselwirkung bewusst. Im zwölften Glaubensartikel heißt es: „Wir glauben, dass es recht ist, Königen, Präsidenten, Herrschern und Obrigkeiten untertan zu sein und dem Gesetz zu gehorchen, es zu achten und für es einzutreten.“ Die Mormonen glauben auch, „dass keine Regierung friedlich bestehen kann, ohne dass solche Gesetze erlassen und unverletzlich gehalten werden, die jedem Einzelnen die freie Ausübung des Gewissens … gewährleisten“2. Gehorsam gegenüber dem Gesetz und die freie Ausübung des Gewissens – das sind hohe Ansprüche. Es bleibt aber kaum eine andere Wahl, als sie unter einen Hut zu bringen.
Diese Herausforderung gestaltet sich von Ort zu Ort unterschiedlich.
Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist in nahezu allen Ländern der Erde vertreten und begegnet dort unterschiedlichen Kulturen, Gebräuchen und Bestimmungen. In diesen Ländern gibt es verschiedene Regierungsformen, politische Werte und Auffassungen von Freiheit. Von den mehr als fünfzehn Millionen Mitgliedern der Kirche folgt ein jedes seinem Gewissen, was die Fragen betrifft, die sich jeden Tag stellen. Der eine mag die Politik an seinem Wohnort oder in seinem Heimatland unterstützen, der andere nicht. Der eine stimmt so ab, der andere so. Die Glaubensansichten eines Mormonen geben keine bestimmte politische Richtung vor. Weltweit betrachtet, tut das Spektrum der politischen Ansichten der Kirche gut und bringt sie voran.
Überall auf der Welt sind Mormonen ihrem Land ebenso treu ergeben wie der Kirche. Die Geschichte, die Kunst und die Literatur ihres Heimatlandes haben sie geprägt, und sie tragen zum Erfolg ihres Gemeinwesens bei. Die Liebe zur Kirche tut der Liebe zur Heimat keinen Abbruch. Gott hat eine Welt erschaffen, in der uns unermessliche Wunder und Reichtümer und eine enorme Vielfalt erfreuen.
Was bedeutet es nun, ein guter Staatsbürger und ein gläubiger Mensch zu sein? Das geistige Ideal einer Kirche geht weit über den eigenen Kirchturm hinaus. Meist betrachten gläubige Menschen sich als Teil einer größeren Gemeinschaft, der sie helfen wollen. Sie leisten in wohltätigen Einrichtungen, Schulen, Verbänden und Vereinen ehrenamtlich Dienst an der bürgerlichen Gesellschaft. Sie kümmern sich in Obdachlosenunterkünften, Suppenküchen und Krankenhäusern um Bedürftige. Sie befassen sich mit politischen Themen und wählen einen anständigen Kandidaten. Sie machen den Mund auf und hören zu, ob es um Kritik oder um Lösungsvorschläge geht.
Vielerorts auf der Welt wird die Gewissensfreiheit des Einzelnen und die religiöser Gemeinschaften jedoch durch Gesetze und gesellschaftliche Bedingungen beeinträchtigt. Mehr als drei Viertel der Weltbevölkerung leben nach Untersuchungen des Pew Research Centers in einem Land mit eingeschränkter Religionsfreiheit.3
Der Friede in der Gesellschaft ist jedoch wahrscheinlicher, wenn die religiöse Überzeugung geschützt ist und jeder seine Meinung frei äußern darf. Studien haben ergeben, dass ein starker Zusammenhang besteht zwischen dem Schutz religiöser Vielfalt und mehr bürgerlicher, politischer und wirtschaftlicher Freiheit, mehr Pressefreiheit, weniger bewaffneten Auseinandersetzungen, besserer Gesundheit, höheren Einkommen, besseren Bildungschancen für Frauen und einer insgesamt besseren Entwicklung des Menschen.4
Es ist niemals einfach, ein guter Staatsbürger zu sein. Man braucht ein gutes Urteilsvermögen und muss rücksichtsvoll und geduldig sein. Im Laufe der Zeit führen Überlegungen oft dazu, dass Gesetze reformiert werden, um den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden. Dem Gesetz muss man nicht nur gehorchen, man muss es auch verbessern. Solche Reformen müssen auf legale Weise erfolgen. Man muss moralisch davon überzeugt sein, dass sie dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Die Heiligen der Letzten Tage haben überall auf der Welt die Pflicht und das Recht, ihr Fleckchen Erde zu einem besseren zu machen. Sie handeln in der Hoffnung, dass die Ansprüche, die der Staat und das Gewissen an sie stellt, sich friedlich miteinander in Einklang bringen lassen.
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1 Siehe Matthäus 22:21
2 Lehre und Bündnisse 134:2
3 Pew Research Center, „Latest Trends in Religious Restrictions and Hostilities“, 26. Februar 2015
4 Siehe Brian J. Grim und Roger Finke, The Price of Freedom Denied, 2011, Seite 206