"Die Religion schafft Gemeinschaft wie nichts sonst." – Rabbi Jonathan Sacks1
In sämtlichen Zivilisationen der antiken Welt war Salz ein Symbol für Freundschaft, Mitgefühl und Großzügigkeit. Das Volk Israel betrachtete es als Bundeszeichen. Für die Perser war es Sinnbild der Anmut und Tugend. Im arabischen Kulturraum wurde es als Geste guten Willens geschätzt. Jesus verglich seine Nachfolger mit dem "Salz der Erde"2 und gebot ihnen, "Frieden untereinander [zu halten]".3 Christen verstehen diese Worte als Aufruf, die Gesellschaft, in der sie leben, zu stützen. Wir waren immer schon Wesen, die in Beziehung zueinander leben, und so findet dieses Bild auch heute noch geistig Anklang. Wie Salz würzt Religion die Interaktionen zwischen Fremden; sie gibt unseren gesellschaftlichen Beziehungen Würze und bewahrt das, was uns an unserem gemeinsamen Dasein wertvoll ist. Das Salz der Gesellschaft zu sein, bedeutet, deren Erfolg zu würdigen.
Die Gesellschaft ist ein komplexer Organismus, in dem es unzählige Schichten, Dimensionen, Facetten und Empfindlichkeiten gibt. Der Staat, der Handel, die Künste, die Familien und die Schulen sind allesamt daran beteiligt, das Gemeinwesen mit Leben zu füllen. Die Religion kann die Aufgabe übernehmen, diese Beziehungen lebendig zu gestalten, indem sie ihnen eine moralische Richtung gibt und ihnen Respekt verschafft sowie zu sozialem Engagement anregt.
Das Reservoir der Moral
Wir übernehmen Religion wie ein Wasserreservoir, aus dem die gesamte Gesellschaft schöpfen kann. Unsere juristische und politische Sprache wird immer noch von einer moralischen Struktur getragen. Unser Verständnis von Rechten und Pflichten beruht auf religiösen Idealen. Unsere liebsten Feiertage und gemeinsam begangenen Feste tragen religiöse Bedeutung in sich. Hinter vielen Vorhaben der Allgemeinheit steht die Überzeugung einer religiösen Gemeinschaft. Obwohl die Religionen die Moral nicht gepachtet haben, konditionieren sie doch unsere Umwelt und formen unser Verständnis von Recht und Unrecht. Die Wissenschaftler Will und Ariel Durant erklären in Bezug auf das, was sie "die Lektionen aus der Geschichte" nennen: "Es gibt in der Geschichte vor unserer Zeit kein bedeutendes Beispiel für eine Gesellschaft, in der ein moralisches Leben ohne die Hilfe der Religion aufrechterhalten wurde."4 Das Ideenreservoir der Religion sprudelt vielmehr dermaßen über, dass jeder zu trinken hat.
Der Geschmack dieses Wassers ist jedoch nicht unbedingt lieblich. Religion ist eine Quelle der Weisheit, die einen herausfordert, vor den Kopf stößt und Dinge in Frage stellt. Ihre Aussagen stehen oft in krassem Gegensatz zum Zeitgeist. Religiöse Werte widerstehen der Tendenz des modernen Lebens, dem Geschmack der Verbrauchermassen nachzugeben. Rabbi Jonathan Sacks ist der Ansicht, dass Religionen "eine Gegenstimme zum Sirenengesang einer Kultur darstellen, in der das Ich mitunter mehr gilt als der andere, das Recht mehr als die Pflicht, nehmen seliger ist als geben, verbrauchen wichtiger, als sich einzubringen, und Erfolg wichtiger, als sich um Mitmenschen zu kümmern".5
Wohltätigkeit und gesellschaftliches Kapital
Die Werte der Religion machen sich ebenso deutlich in Tafeln, Krankenhäusern, Schulen und unzähligen weiteren humanitären Einrichtungen bemerkbar wie in Predigten und Kirchengesang. Einfach ausgedrückt, baut man mit Religion gesellschaftliches Kapital auf. Untersuchungen zufolge spenden über 90 Prozent der Menschen, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, Geld für wohltätige Zwecke und annähernd 70 Prozent von ihnen sind ehrenamtlich karitativ tätig.6 Teilnahme am religiösen Leben fördert das Geben, und dies kommt schließlich auch dem Geber zugute. Forscher der Yeshiva University in New York haben die religiösen Gepflogenheiten von fast 100.000 Frauen untersucht und "einen starken Zusammenhang zwischen dem Besuch der Kirche, der Synagoge oder einer anderen Anbetungsstätte und einer positiven Einstellung zum Leben" entdeckt.7 Eine andere Studie israelischer Juden belegt, dass der Besuch von Gottesdiensten und das Gebet mit größerem Glück, mehr Lebenszufriedenheit und höherem Wohlbefinden in Zusammenhang stehen.8
Religiöse Menschen tragen erheblich zur Lebenskraft und zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei. Aus der wegweisenden Studie American Grace ergibt sich, dass religiöse Menschen "ihren Nachbarn gegenüber großzügiger sind und verantwortungsvollere Bürger sind als diejenigen, die nicht religiös sind".9 Diese wohltätige Grundeinstellung wird in scheinbar kleinen Taten sichtbar. Wer beispielsweise oft in die Kirche geht, neigt eher dazu, Obdachlosen Geld zu geben, überschüssiges Rückgeld dem Kassierer zurückzugeben, Blut zu spenden, Unbekannten einen Platz anzubieten, jemandem zu helfen, eine Arbeit zu finden, und vieles mehr.10
Würde und Höflichkeit
Wenn man in die Kirche geht, Interessen mit anderen teilt und an ihrem Leben teilhat, geht man auch eher rücksichtsvoll miteinander um. Derselben Studie zufolge gehören religiöse Menschen auch eher gesellschaftlichen Einrichtungen an, sie beteiligen sich an der Lösung allgemeiner Probleme, nehmen am gesellschaftlichen und politischen Leben teil und drängen auf soziale oder politische Reformen.11 Menschen, die glauben, verwandeln ihre Nachbarschaft, ihren Wohnort und ihr Land in einen besseren Ort.
Wer Teil einer Gesellschaft ist und die Vorteile daraus genießt, befindet sich jedoch nicht in einer Einbahnstraße – so, wie man anderen verpflichtet ist, hat man selbst auch Rechte. Diese alte Weisheit, die man zu jeder Zeit und in allen Zivilisationen findet, wird aus gutem Grund die goldene Regel genannt. "Behandele andere so, wie du selbst behandelt werden möchtest" – das ist die moralische Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Man muss nicht religiös sein, um sich darin einig zu sein, dass diese gegenseitige Verpflichtung eine Wahrheit über die jedem Menschen innewohnende Würde und das moralische Gewissen, das unsere Entscheidungen leitet, offenbart. Solange Menschen sich gesellschaftlich organisieren, Differenzen überwinden und darauf bauen, dass alle Beteiligten guten Willens sind, wird das Salz der Religion beim Schutz des Gemeinwohls eine bedeutende Rolle spielen.
1 "Charles Taylor and Jonathan Sacks on the Future of Religion", YouTube, Veranstaltung der McGill University
2 Matthäus 5:13
3 Markus 9:50
4 Will und Ariel Durant, The Lessons of History, 1996, Seite 51
5 "Chief Rabbi Lord Sacks on the Role of Religion in Society", YouTube, Rede im britischen Oberhaus
6 Arthur C. Brooks, "Religious Faith and Charitable Giving", Policy Review, Oktober 2003. Ähnliche Statistiken finden sich in der Studie „Faith Matters“ von 2006, wie in American Grace: How Religion Divides and Unites Us zitiert.
7 Eliezer Schnall, "Women's Health Initiative observational study", Journal of Religion and Health, November 2011; siehe auch Gabe LaMonica, "Study Links Regular Religious Service Attendance, Outlook on Life", CNN Belief Blog, 10. November 2011
8 Jeff Levin, "Religious Behavior, Health, and Well-Being Among Israeli Jews: Findings From the European Social Survey", Psychology of Religion and Spirituality, November 2013
9 Robert A. Putnam und David E. Campbell, American Grace: How Religion Divides and Unites Us, 2010, Seite 444
10 American Grace, Seite 451
11 American Grace, Seite 454ff.