"Unsere Moral wurzelt in der Religion." – Theo Hobson1
Was bedeutet es, wenn man etwas für selbstverständlich hält? Jeden Tag bewegen wir uns auf einem Boden, den wir kaum beachten. Er ist einfach vorhanden, unter uns, und trägt uns all unsere Tage, während wir lernen, arbeiten, beten. Wenn auch oft unbemerkt, steckt der Boden unseres Lebens voller religiöser Bedeutung. Viele der drängenden Fragen des Lebens sind eher geistiger Natur. Wie erlangen wir das, wonach wir uns am meisten sehnen? Wieso ist etwas richtig oder falsch? Wen sollten wir lieben? Wie überwinden wir Leid? Die Antworten, die wir erhalten, prägen unsere Auffassung von der Realität. Religion aber wird stets angefochten. Manche können sich eine Welt ohne Glauben durchaus vorstellen. Was steht also für uns auf dem Spiel?
Wissenschaft und Technik erschließen uns mit ihrer Präzision viele Wunder und Wahrheiten, doch sie können nicht, wie es einmal jemand ausgedrückt hat, "einen Sinn stiften, Vertrautheit vermitteln, das Gefühl ansprechen – das, worauf es im täglichen Leben der Menschen am meisten ankommt".2 Das Höchste, was ein Mensch erreichen kann, ist oftmals religiöser Inspiration zu verdanken. Viele der erlesensten Kunst- und Bauwerke, der musikalischen und literarischen Werke der Welt umweht die Schönheit geistigen Verlangens. Heilige Schriften geben den ethischen Rahmen vor, der Taten auslöst, die von Selbstaufopferung, Redlichkeit und Liebe zeugen. Die Religion bietet der Gesellschaft gemeinsame moralische Ziele, regt zum Einsatz für die Gesellschaft ohne gesetzlichen Zwang an, fördert die freiwillige Einhaltung der Gesetze und gemahnt uns an die uns innewohnende Menschenwürde. Der Glaube an eine Gottheit bewegt dazu, Todesfurcht zu überwinden und Leiden in Gutes umzumünzen.
Die Werte einer Gesellschaft wurzeln im Boden der Religion. Die heutigen Bemühungen um die Menschenrechte, Uneigennützigkeit und humanitäre Hilfe beispielsweise haben Vorläufer in der Religion. Hinter dem Bestreben, die Armen zu ernähren, Obdachlose unterzubringen und Kranke zu behandeln, stecken oft die Geistlichen einer Kirche.3 Das Vertrauen auf unsere bürgerlichen Grundlagen beruht auf den geistigen Disziplinen Ehrlichkeit, Einfühlungsvermögen und Gegenseitigkeit. Jeder hat etwas davon, wenn wir diesen Idealen gerecht werden. Der weltlich orientierte Journalist Will Saletan schrieb einmal: „Über die Religion erkennen die meisten Menschen, was Moral ist und wie man sich moralisch verhält. Auf lange Sicht ist sie unser Freund.“4
Alles, was dann kommt, ist kostbar und unbestimmbar. Alexis de Tocqueville erklärte, der Mensch sei mit "einem Hang zum Grenzenlosen" und einer "Liebe für alles Unsterbliche" geboren.5 In allen Zeitaltern und in allen Kulturen ist über das Unfassbare gründlich nachgedacht worden. Wer wir sind, was wir erkennen, worin unser Heil liegt und wo wir hingehören sind Fragen der Seele, die unserem Herzen niemals fern sind. Der Agnostiker Julian Barnes berührte eine tiefgründige Wahrheit, als er sagte: "Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn."6 Eine Welt ohne Religion sieht platter, leerer und schlichter aus, und doch sehnt sie sich nach dem Gott, den sie einst kannte.
Heute finden Menschen überall auf der Welt Zuflucht bei Gott und in ihrer Glaubensgemeinschaft. Vierundachtzig Prozent der Weltbevölkerung bekennen sich zu einer Religionsgemeinschaft.7 Die Welt versinkt nicht in Unglauben, vielmehr wird der Glaube reichhaltiger, pluralistischer, vielschichtiger. Wir alle sind Treuhänder über die Gesellschaft und bestimmen mit unseren Entscheidungen, was für ein Mensch aus uns wird. Der Boden der Religion muss ständig gehegt und gepflegt werden. Ein Garten kann sich nicht um sich selbst kümmern.
1 Theo Hobson, “The Return of God: Atheism’s Crisis of Faith,” The Spectator, Apr. 19, 2014.
2 Alasdair Craig, “God Is Dead — What Next?” Prospect, May 1, 2014.
3 See Robert A. Putnam and David E. Campbell, American Grace: How Religion Divides and Unites Us (2010).
4 Will Saletan, “When Churches Do the Right Thing,” Slate, May 8, 2014.
5 Alexis de Tocqueville, Democracy in America (2000), 510.
6 Julian Barnes, Nothing to Be Frightened Of (2009), 1.
7 Pew Research Religion & Public Life Project, “The Global Religious Landscape,” Dec. 18, 2012.