"Religionsgemeinschaften überspannen die wichtigen Abschnitte des Familienlebens – Geburt, Kindererziehung und Ehe – mit einen heiligen Baldachin, der ihnen Bedeutung verleiht." – W. Bradford Wilcox1
Trotz des erzielten Fortschritts und all ihrer Möglichkeiten ist es für unsere moderne Welt schwierig, über sich selbst hinaus zu blicken. Jede Generation hat mit ihren eigenen Sichtbehinderungen zu kämpfen. Im alten Rom ging man beipsielsweise davon aus, dass sich der Einfluss einer Person auf 100 Jahre erstreckt. Innerhalb dieser Zeitspanne konnte sich der Einzelne an die beiden vorangegangenen Generationen erinnern und für die beiden folgenden Generationen sorgen. Dann, so die Annahme, hörte dieser Einfluss auf und ein neues Jahrhundert mit neuen Menschen und neuen zentralen Themen wurde eingeleitet.2 Auf Dauer angelegte Gesellschaften benötigen jedoch ein weiter gefasstes Sichtfeld.
Die Anziehungskraft der Gegenwart ist stark, aber auch die Vergangenheit und die Zukunft fordern unsere Aufmerksamkeit. Familie und Glaube – unsere beiden bedeutenden Brücken über das Hier und Jetzt – erstrecken sich in beide Richtungen weit über 100 Jahre hinaus und erweitern den Zweck und die Bedeutung unseres Lebens.
Niemand von uns ist nur als Einzelner geboren. Wir kommen mit einem bereits bestehenden Netz von Bindungen und Verpflichtungen auf die Welt. Diese Familienbeziehungen formen unsere Weltanschauung, prägen unsere Werte aus und formen unsere Identität. Und Familien jeder Art gedeihen, wenn sie in eine Glaubensgemeinschaft eingebunden sind. Der Nutzen ist beiderseitig – Kirchen stärken Familien und Familien stärken Kirchen. Diese Kooperation zwischen Familie und Glaube festigt die Normen und Vorstellungen davon, was richtig und falsch ist, lehrt uns, was Nächstenliebe bedeutet, und stellt ein Fundament her, auf dem Kinder und Eltern durch die Herausforderungen des Lebens steuern. In anderen Worten: Familie und Glaube verhindern, dass wir allein auf uns gestellt sind. Sie erweitern unseren Verantwortungsbereich über das Selbst hinaus und helfen uns dabei, Fremde zu Freunden zu machen. Familien reichen dann dieses geistige und gesellschaftliche Kapital über die Generationen weiter.
Indem sie umfangreiche sozialwissenschaftliche Studien heranzieht, weist die Autorin Mary Eberstadt nach, wie eng diese Kräfte miteinander verwoben sind. "Familie und Glaube stellen die unsichtbare Doppelhelix der Gesellschaft dar", schreibt sie, "zwei Spiralen, die sich effizient reproduzieren können, sobald sie miteinander verbunden sind, deren Stärke und Dynamik jedoch voneinander abhängig sind."3
Diese Partnerschaft ist an Sonntagnachmittagen in der Kirche zu sehen. Eberstadt weist auf den breiten soziologischen Konsens hin, dass Menschen, die heiraten und Kinder kriegen, häufiger in die Kirche gehen oder auf andere Weise ihre Religion ausüben.4 Ein weiterer Faktor dabei ist der Einfluss, den Kinder auf das religiöse Leben ihrer Eltern haben. Der Soziologe W. Bradford Wilcox drückt es ganz einfach aus: "Kinder treiben Eltern in die Kirche."5 Die Geschichte wiederholt sich – die Kinder wachsen in einer Kirche auf, ziehen für die Ausbildung von zu Hause weg und driften vom Glauben ab, nur um zurückzufinden, sobald sie heiraten und selbst Kinder kriegen. Welche Erklärung gibt es für dieses Phänomen? Die Entscheidungen, die wir hinsichtlich unserer tiefsten Überzeugungen und engsten Beziehungen treffen, sind nie einfach. Wilcox fügt eine wichtige Einsicht hinzu: "Wenn ein Kind zur Welt kommt, kann das bisher ungenutzte Reserven an Liebe freisetzen, das Bewusstsein für das Überirdische schärfen und den Wunsch wecken, ein gutes Leben zu führen."6 All dies ist wichtig, denn Familie und Religion gehören zu den grundlegendsten menschlichen Institutionen. Vereint führen sie auch die Gesellschaft zusammen; ihre Trennung schwächt die Gesellschaft.
Die heiligen Beziehungen zwischen Familie und Kirche, Kirche und Familie verbinden uns auch mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Kontinuität hilft uns dabei, unseren Platz in diesem großen Universum zu finden. Wir erkennen, wer wir sind. Der Dichter Wendell Berry verleiht diesen Bestrebungen Ausdruck: "Die Ehe zweier Liebender verbindet diese miteinander, mit den Vorfahren, mit den Nachkommen, mit der Gemeinschaft, mit dem Himmel und der Erde. Sie ist die grundlegende Verbindung, ohne die nichts Bestand hat."7
Das Schicksal von Familie und Kirche wird weiter hin- und herschwanken, wie dies auch schon in den verschiedenen Abschnitten der Weltgeschichte der Fall war, doch die Erfahrung zeigt, dass beide Hand in Hand gehen werden. Wenn es mit dem einen bergauf oder aber bergab geht, so gilt das auch für das andere. Der Gang der Geschichte ist nicht vorgezeichnet; er hängt von Entscheidungen ab. Und diese Entscheidungen bewegen sich auf einer langen Zeitschiene – und diese ist in der Tat viel länger, als dass 100 Jahre dafür ausreichten.
1 W. Bradford Wilcox, „As the Family Goes“, First Things, Mai 2007
2 Siehe Remi Brague, „The Impossibility of Secular Society“, First Things, Oktober 2013
3 Mary Eberstadt, How the West Really Lost God, 2013, Seite 22
4 Eberstadt, How the West Really Lost God, Seite 93
5 Wilcox, „As the Family Goes“
6 Wilcox, „As the Family Goes“
7 Wendell Berry, Sex, Economy, Freedom, and Community, 1992