Sie glaubten an dieselbe Bibel wie die Protestanten, verteidigten sich die Vorgeladenen. Zwei Frauen, zwei Männer. Einer war Zimmermann, die anderen arbeiteten in einer Spinnerei. Weil sie zu einer neuen Kirche übergetreten waren, ordnete der Erlanger Bürgermeister Dr. Georg Schuh ihr Erscheinen an. Wir schreiben den 9. Februar 1883.
Vorausgegangen war ein Schreiben der Kammer des Inneren der Königlichen Regierung von Mittelfranken an den Stadtmagistrat Erlangen. Ungeachtet des "jedem Einwohner des Königreichs Bayern […] eingeräumten Rechtes auf freie Wahl des Glaubensbekenntnisses" habe die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage die "allerhöchste Königliche Genehmigung zur Einführung" noch nicht erhalten. Gemeinschaftliche Hausandachten seien "nicht statthaft". Der Stadtmagistrat wurde daher ersucht, sich Kenntnisse über die "Mormonensendlinge" zu verschaffen und ihnen "unter Strafandrohung die Versammlung zu gemeinsamer Religionsausübung zu untersagen".
Der neun Jahre später zum Ritter erhobene Bürgermeister kam folglich einer amtlichen Pflicht nach, als er die Gläubigen verhören ließ. Als "Mormonensendlinge" bezeichneten die Regierungsbeamten die Missionare der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Protokolle verweisen auf einen "gewissen Kanan". Gemeint war wohl John Q. Cannon.
Der Sohn des Apostels George Q. Cannon war im Alter von 24 Jahren aus dem Salzseetal im US-Bundesstaat Utah nach Europa aufgebrochen. Nach einem siebenmonatigen Aufenthalt in Großbritannien reiste er weiter nach Deutschland und in die Schweiz. Den späteren zwischenzeitlichen Erlanger Gemeindeleiter Adam Dengler taufte er im Frühjahr 1882 in der Regnitz zwischen Bruck und Eltersdorf, so ein Aktenvermerk der Gendarmerie.
Die Lokalpresse bemerkte ebenfalls den Missionserfolg Cannons und seiner Begleiter. Diese fanden "in hiesiger Gegend auch viele Anhänger", berichtete das Erlanger Tagblatt am 18. Januar 1883. Wenige Tage vorher hatten sich "sechs Spinnereiarbeiter beiderlei Geschlechts" taufen und konfirmieren lassen.
Kurz darauf erfuhr die Geschichte der Gemeinde einen Bruch. In einem eigenen statistischen Bericht wurden zuletzt zum Jahresende 1883 genau 18 Mitglieder gezählt. In einer amtlichen Notiz vom 9. September 1907 vermeldete der Stadtmagistrat anscheinend triumphierend: "Hier sind keine Mitglieder der Mormonensekte." Ob die Gläubigen aufgrund behördlichen Drucks von ihrem neu gefundenen Glauben abließen oder fortzogen, ist unbekannt.
Die Anfänge der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Erlangen gerieten in Vergessenheit, bis ein Mitglied der 1964 neu gegründeten Gemeinde im Stadtarchiv auf Presseartikel und amtliche Schreiben stieß. In Vorbereitung auf Feierlichkeiten im Februar 2005 anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Gemeindehauses recherchierte Klaus Kümmel und wurde dabei auf die frühere Gemeindegründung aufmerksam. Er forschte seitdem in Eigeninitiative weiter nach und reichte nun einen ersten Bericht mit dem Titel "Die unbekannten Jahre" beim geschichtlichen Archiv der Kirche Jesu Christi ein.